Erkennen, was notwendig ist

Leadership ist ein scheues Reh. Es ist nicht zu verwechseln mit der Position an der Spitze einer Organisation. Nicht jede/r Vorstandsvorsitzende oder Chef (m/w/d) hat das verstanden. Gerade in der Krise ist jedoch Leadership erforderlich. Die Fähigkeit, sich als treuhänderischer Verwalter der Schicksale von Menschen zu verstehen, die sich in Obhut der Führungskraft befinden, wie es Barry-Wehmiller Chef Bob Chapman formuliert. Wie krass eine Führungskraft missverstehen kann, was das bedeutet, demonstriert ein Interview mit dem Chef der Deutschen Post, Frank Appel, in der aktuellen ZEIT.

Das Gespräch über „Vorteile der Globalisierung, das Aus seines Elektrolieferwagens und darüber, warum er sein Millionengehalt für fair hält“ offenbart im Gegenteil, wie groß die Aufgabe ist, die vor uns liegt: Um den volkswirschaftlichen Schaden nach der Epidemie wieder aufzuholen, wird es darauf ankommen, Einsatzbereitschaft, Kreativität und Innovationsfähigkeit von Unternehmen zu stärken. Dazu ist Vertrauen in und Glaubwürdigkeit von Personen und Werten erforderlich.

Die Deutsche Post ist insoweit begünstigt, als sie aktuell zu jenen Unternehmen zählt, die von der Krise profitieren. Weil Geschäfte geschlossen sind, boomt der Versandhandel um so mehr. Schmerzhafte Kostensenkungsmaßnahmen muss das Unternehmen also anders als andere derzeit nicht treffen. Dennoch wird auch bei der Post in einigen Bereichen Kurzarbeit praktiziert, weil beispielsweise in der Automobilbranche keine Logistikleistungen erbracht werden konnten.

Appel wird diesbezüglich gefragt, ob es angebracht sei, vom Staat Kurzarbeitergeld zu beziehen, während man an der Ausschüttung von Dividenden an die Aktionäre festhalte, was der Post-Chef bejaht. Schließlich seien „ein Großteil“ der Aktionäre Pensionsfonds. Ein Verzicht auf Dividendenausschüttung treffe also Menschen, »die ihr Leben lang gearbeitet haben.«

Selbst auf den Vorhalt, dass auch Pensionsfonds Unternehmen sind, die ein Risiko eingehen, für das sie im Erfolgsfall belohnt werden und es fraglich sei, weshalb das Risiko vom Steuerzahler abgesichert sein sollte, antwortet der Post-Chef mit einer Anspruchshaltung: »Für das Kurzarbeitergeld sind auch von unserem Unternehmen signifikante Sozialbeiträge in die Arbeitslosenversicherung gezahlt worden.«

Appel versucht offenichtlich, zu legitimieren, dass ein Unternehmen gleichzeitig Mittel aus der solidarischen Sozialversicherung beanspruchen darf, die letztendlich dazu dient, die Möglichkeit einer Dividendenausschüttung zu erhalten, bzw. die Höhe der Dividende zu optimieren. Ein Bewusstsein für die Tatsache, dass das Ausmaß der Krise bereits jetzt alle möglicherweise vorhandenen Reserven der Sozialversicherung übersteigt, und deswegen staatliche Garantien, Steuermittel aufgewendet werden müssen, lässt Appel vermissen.

Doch auch hinsichtlich seiner eigenen Vorbildrolle im Unternehmen ist, der Post-Chef bemerkenswert unsensibel:

ZEIT: Diese Krise stellt auch soziale Fragen. Sie selbst haben im Jahr 2019 acht Millionen Euro verdient, also ungefähr das 200-Fache eines Paketzustellers. Ist das aus Ihrer Sicht fair?

Appel: In dieser Frage ist für mich das Erreichte ausschlaggebend: Ist die Kundenzufriedenheit, ist die Mitarbeiterzufriedenheit, ist der Wert des Unternehmens gestiegen? Unser Unternehmen hat in den vergangenen Jahren deutliche Fortschritte entlang unserer selbst auferlegten drei Kernziele gemacht, nämlich Arbeitgeber und Anbieter erster Wahl sowie attraktiv für Investoren zu sein. Mein Gehalt ist zu rund drei Vierteln variabel. Deshalb ist es auch durch die langfristige Verbesserung unseres Aktienkurses gestiegen. Unsere Aktionäre haben also profitiert. Wir zahlen jedes Jahr rund 22 Milliarden Euro an Gehältern und Sozialabgaben. Wir haben in den vergangenen Jahren mehr als 50.000 Arbeitsplätze geschaffen. Das ist mehr, als die meisten Unternehmen überhaupt an Angestellten haben. Darüber hinaus haben wir konzernweit die Mitarbeiterzufriedenheit deutlich gesteigert.

Wie hoch die Mitarbeiterzufriedenheit bei der Post tatsächlich ist, sei zunächst dahingestellt. Auch die ZEIT findet, Appel mache sich die Argumentation vielleicht zu einfach und legt nach:

ZEIT: (...) Sie bekommen auch das 200-Fache dessen, was eine Pflegerin in Deutschland verdient. Sind die Maßstäbe, nach denen Gehälter wie das Ihre berechnet werden und die ja vor allem von Managern für Manager gemacht werden, überhaupt richtig?

Appel: Was ist denn der richtige Maßstab?

ZEIT: Wir fragen Sie.

»Ist es richtig, dass ein Topscorer, der 30 Tore in der Saison erzielt, so viel mehr verdient als der Zeugwart?«

Frank Appel, Deutsche Post DHL, Vorstandvorsitzender,

Appel: Wie schon gesagt, der richtige Maßstab ist: Gibt es einen Gegenwert? Hat das Unternehmen Arbeitsplätze geschaffen? Hat das Unternehmen den Mitarbeitern gute Löhne bezahlt? Hat das Unternehmen die Kundenzufriedenheit gesteigert? Hat das Unternehmen Wert für die Aktionäre geschaffen? Im Sport wäre die Frage: Ist es richtig, dass ein Topscorer, der 30 Tore in der Saison erzielt, so viel mehr verdient als der Zeugwart der Fußballspieler? Unser Unternehmen steht heute, zwölf Jahre nachdem ich den Vorstandsvorsitz übernommen habe, besser da als jemals zuvor. Wir haben uns in allen fünf Unternehmensbereichen marktführende Positionen erarbeitet, und wir geben unseren Mitarbeitern dadurch eine langfristige Arbeitsperspektive.

Frank Appel ist zu recht stolz auf Verbesserungen in der Leistung des von ihm geführten Unternehmens. Gleichzeitig geht er in seiner Antwort jedoch an den Kernfragen vorbei, sowohl was die Frage der Dividendenausschüttung trotz Inanspruchnahme von Kurzarbeitergeld angeht, als auch hinsichtlich der Angemessenheit der Höhe des Gehalts. Er wird gefragt, ob die Maßstäbe der Gehaltsbemessung richtig sind, die ja von Managern für Manager aufgestellt werden. Auf deutsch lautet die Frage: bedienen sich Manager nicht selbst zu sehr im Vergleich zu Durchschnittsverdienern?

Diese Frage ist relevant, weil es im Hinblick auf Zufriedenheit und mehr noch auf Vertrauen im Team (Unternehmen) darauf ankommt, dass sich alle Mitarbeiter wertgeschätzt fühlen. Everybody Matters. Die Nachrichten über frisierte Befragungen zur Mitarbeiterzufriedenheit werfen in dieser Hinsicht kein gutes Licht auf die Post. Selbst, wenn es „nur“ so sein sollte, dass sich Bereichsleiter zur Erlangung finanzieller Vorteile („leistungsabhängige Vergütung„) dazu haben verleiten lassen, die Befragung zu manipulieren, spricht es Bände über die offensichtlich herrschende Unternehmenskultur. Es bedeutet, dass eine Kultur existiert, in der zum eigenen Vorteil ethisches Verhalten (Akzeptanz des objektiven Ergebnisses einer Mitarbeiterbefragung) unterdrückt und unethisches Verhalten (Manipulation der Umfrageergebnisse) ausgeübt wird. Noch ungünstiger wäre es, wenn Furcht vor Abstrafung die Motivation für das Fehlverhalten gewesen wäre.

Ethical Fading nennt Simon Sinek das Phänomen. Ethische Unschärfe, also das Versagen, zu erkennen, was ethisch geboten und notwendig ist. Das Unternehmen Wells Fargo gilt als Musterbeispiel für eine Kultur der ethischen Unschärfe. Ein über Jahre kultivierter Skandal um falsche Vertriebsabschlüsse führte letztlich zum Ausscheiden des CEO. 2017 hat das Unternehmen den Abschluss von Neuverträgen als Bewertungskriterium für die Leistung von Mitarbeitern endgültig abgeschafft. Es ist nicht bekannt, ob es bei der Deutschen Post DHL einen Zusammenhang zwischen Bezügen von Vorgesetzten und der Mitarbeiterzufriedenheit gibt. Die Begründung, die Frank Appel für die Angemessenheit seiner Bezüge gibt, lässt es jedoch möglich erscheinen.

Hier kommt das Thema Vertrauen im Team erneut zum Tragen. Vertrauen wächst dort, wo gemeinsam geteilte Werte gelebt werden. Fragen Sie einmal Ihre/n Zusteller/in, welche Werte bei der DHL gelebt werden! Auch hier ist die Antwort von CEO Appel aufschlussreich: Sein Gehalt sei in gleicher Weise gerechtfertigt, wie das Salär eines „Topscorers im Fußball“ vielfach höher sei als das des Zeigwarts.

»Ist es richtig, dass ein Topscorer, der 30 Tore in der Saison erzielt, so viel mehr verdient als der Zeugwart?«

Frank Appel ist ein ehrenwerter Mensch. Sein am Beispiel des aktuellen Interviews hier diskutierter Fall ist nur ein Indikator für ein schleichend abhanden gekommenes Verantwortungsbewusstsein bei vielen Menschen in Führungspositionen. Führung ohne Verantwortung ist das Gegenteil von Leadership. Die Verantwortung – und die Vorbildfunktion – von Leadern hat Bob Chapman in der Krise 2008/9 dergestalt angenommen und ausgefüllt, dass er die Maßnahmen des Unternehmens Barry Wehmiller zur Kostensenkung und Verbesserung der Liquidität durch einen weitgehenden Gehaltsverzicht ergänzt hat. Rich Sheridan, Gründer und CEO von Menlo Innovations, verzichtet mit seinem Mitinhaber in der aktuellen Corona-Krise gar ganz auf ein Geschäftsführergehalt. Die ZEIT hat auch Frank Appel auf einen persönlichen Beitrag zur Bewältigung der Krise angesprochen: Wäre eine einmalige Vermögensabgabe oder alternativ höhere Steuern für Spitzenverdienen denkbar für ihn? „Sind Sie dabei?“

Appel: Aus meiner Sicht ist ein anderes Thema entscheidend: Anstatt über Endgerechtigkeit sollten wir über Ausgangsgerechtigkeit sprechen. Ich bin ja ein typisches Mittelschichtskind, das im Reihenhaus aufgewachsen ist. Unser Land hat mir eine hervorragende Ausbildung ermöglicht. Und an der Stelle müssen wir investieren, in ein erstklassiges Bildungssystem, in die Offenheit der Märkte und in die Infrastruktur. Wir müssen also darüber reden, wie wir eine Ausgangsgerechtigkeit und damit Zugang zu Möglichkeiten und Chancengleichheit erreichen. Und außerdem: In Deutschland sind die Steuern in den vergangenen zehn Jahren nicht gesunken, obwohl die Verschuldung des Staates erheblich gesunken ist. Dies ermöglicht der Bundesregierung jetzt, die milliardenschweren Rettungspakete zu schnüren. Von wem sind denn diese Steuern bezahlt worden? Natürlich zu nicht unerheblichen Teilen von den Unternehmen und Spitzenverdienern.

Appel ist erstaunlich selbst-bewusst. Die nominal höheren Steuersätze für Spitzenverdiener sind ihm Argument genug, in dieser nach Aussagen der Bundeskanzlerin „gößten Herausforderung seit Ende des zweiten Weltkriegs“ den Staat in die Pflicht zu nehmen. Es müsse ins Bildungssystem investiert werden, damit mehr „Kinder aus Reihenhäusern“ Erfolg haben könnten.

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