Führungsstark, nicht unverwundbar

Siegfried trinkt das Drachenblut, Arthur Rackham, 1911

Die Wirtschaft steht – wie auch die Politik – vor großen Herausforderungen. „Weiter so“ ist keine Lösung. Schon allein der globale Wettbewerb zwingt zu der Erkenntnis, dass die Rezepte der Vergangenheit für morgen nicht mehr taugen. Sowohl mikro- als auch makroökonomisch ist eine Grenze erreicht, die nahelegt, dass ein „Höher, Schneller, Weiter“ wenn schon nicht ersetzt, so doch zumindest neu definiert gehört. Was ist der Erfolg, den sich Unternehmen und Volkswirtschaften wünschen angesichts von Herausforderungen wie Demografischer Wandel, Klimaveränderung oder Währungs- und Finanzkrise? Und wie müssen Führungspersönlichkeiten ausgestattet sein, die die Menschen in ihrem Verantwortungsbereich glaubwürdig und erfolgreich an den Herausforderungen vorbei und durch die Krisen hindurch führen? Bisheriges Credo: sie müssen nicht nur gut ausgebildet, sondern auch stark sein. Mehr und mehr setzt sich jedoch die Erkenntnis durch, dass diese Stärke nicht aus Unverwundbarkeit besteht, sondern aus dem genauen Gegenteil: starke Führungspersönlichkeiten sind verwundbar und haben kein Problem damit, das zu zeigen.

Seit der Nibelungen-Sage sollte klar sein, dass Unverwundbarkeit eine Illusion ist. Dennoch hat sich – mindestens in der westlichen Welt – das Paradigma entwickelt, dass Verwundbarkeit eine Schwäche sei. Menschen legen sich daher eine Rüstung zu, mit der sie sich schützen. Wir alle tun das mehr oder weniger. Dieser Panzer, hinter dem wir uns sich verstecken, hat jedoch fatale Folgen: wir zeigen nicht mehr unsere wahre Persönlichkeit, sondern personifizieren bestenfalls einen Wunsch. Diese fiktive Gestalt ist auch nicht mehr authentisch.
Führung ist keine Frage des Gehaltes oder der Abteilungsgröße. Führung ist die Folge wahrgenommener Verantwortung in der Entwicklung von Potenzialen in Personen und Prozessen. Führung ist kein Titel, sondern vor allem eine soziale Funktion. Simon Sinek formuliert es so: „es gibt Führer und es gibt Persönlichkeiten, die führen„. Erstere gewinnen ihre Autorität aus einer Stellung innerhalb oder an der Spitze einer Organisation. Es sind jene gepanzerten Typen, denen niemand wirklich folgt, weil niemand ihr wirkliches Wesen erkennt und niemand sie versteht.
Persönlichkeiten, die führen, tun das, weil sie Menschen inspirieren, ihnen zu folgen. Führungspersönlichkeiten geben einer Sache, einem Zweck, der grösser ist, als sie selbst, ein Gesicht. Ein menschliches Gesicht.
Führung ist ein people Business. Und wer mit Menschen zu tun hat, ist verletzbar. Verletzbar nicht nur durch die Enttäuschungen und Wunden, die er oder sie erleidet in der Interaktion mit anderen. Verletzbar sind wir auch durch die Blößen, die wir uns selbst geben. Durch Angst vor Kritik, Angst vor dem Scheitern oder durch Schuld, Scham und andere Gefühle.
Brené Brown ist Expertin auf diesem Gebiet. Die Texanerin hat mehr als zehn Jahre über Scham, Angst und Verletzbarkeit geforscht. In einem Beitrag für das Blog der Bill and Melinda Gates Foundation hat die Wissenschaftlerin nun die These aufgestellt, dass das Eingeständnis dieser zutiefst menschlichen Verwundbarkeit eine Grundbedingung für die glaubwürdige Ausübung von Führungskraft ist. Umgekehrt wird unsere Welt, auch die Wirtschaft, entmenschlicht, wenn Kennziffern und Geld wichtiger werden als Beziehungen und Werte. Wenn der Selbstwert, den wir uns zumessen, abhängig ist von abstrakten Produktivitätsvorgaben. Dann gehen Mitarbeiter wie auch Führungskräfte früher oder später in die innere Immigration und, so Brown, „wenden sich ab von den Dingen, die die Welt dringend braucht: ihren Talenten, ihren Ideen und ihrer Leidenschaft.“

Lassen wir es nicht soweit kommen. Haben wir den Mut, uns als Menschen zu verstehen, die eines nicht sind: unverwundbar. Daraus gewinnen wir Glaubwürdigkeit und Stärke!

Brené Brown, Daring Greatly: How the Courage to Be Vulnerable Transforms the Way We Live, Love, Parent, and Lead

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